16

 

Elise strich mit der Hand über die Lagen glänzender indigoblauer Seide, die sie umhüllten. Das ärmellose Abendkleid war atemberaubend, eines von über einem Dutzend Designerstücken, die Andreas Reichen früher am Tag für sie aus der Innenstadt hatte bringen lassen, damit sie daraus ihre Wahl treffen konnte. Sie hatte sich für das schlichteste Stück in der gedecktesten Farbe entschieden und wünschte sich eigentlich nichts mehr, als diesen Abendempfang einfach schwänzen zu können.

Den ganzen Tag schon hatte man sie behandelt wie eine Königin, und selbst nach ein paar erholsamen Stunden Schlaf war sie einfach nicht in der inneren Verfassung für den stundenlangen kultivierten Small Talk, der ihr im großen Ballsaal des Anwesens bevorstand. Aber nach jahrelanger Übung an Quentins Seite wusste sie, was von einem Mitglied der Familie Chase erwartet wurde: Die Pflicht ging über alles. Das war Quentins persönlicher Wahlspruch gewesen, und auch Elise war er mit der Zeit in Fleisch und Blut übergegangen. Also hatte sie nach einer schnellen Dusche in ihrer Besuchersuite das eng anliegende dunkelblaue Abendkleid und ein Paar juwelenbesetzter Sandalen angezogen, ihr kurzes Haar in eine halbwegs annehmbare Form gebracht und war aus dem Raum geeilt, bereit, ihre Rolle zu spielen.

Zumindest hatte sie das vorgehabt.

Sobald sie die geschwungene Freitreppe des weitläufigen Wohnflügels herunterkam, brachte das Geräusch von Stimmen und eleganter Musik sie zum Stehen.

Das würde der erste öffentliche Empfang sein, den sie seit Quentins Tod besuchte. Bis sie vor vier Monaten ihren Dunklen Hafen verlassen hatte, war sie in Trauer gewesen, hatte die lange weiße Tunika und die purpurfarbene Schärpe einer verwitweten Stammesgefährtin getragen. Als solche hatte sie sich in ihrem Zuhause einigeln können und nur Menschen empfangen müssen, die sie wirklich sehen wollte. So war sie den mitfühlenden Blicken und dem Getuschel entgangen, die ihr Quentins Abwesenheit nur umso mehr in Erinnerung riefen.

Und das, erkannte sie jetzt, als Andreas Reichen ihr aus der Richtung des bevölkerten Ballsaals über die Marmorfliesen des Foyers entgegengeeilt kam, ließ sich nun nicht mehr vermeiden.

In seinem schwarzen Frack und dem gestärkten weißen Hemd sah Andreas umwerfend aus. Sein dunkles Haar trug er heute Abend in einem losen Pferdeschwanz, wodurch seine rasiermesserscharfen Wangenknochen und sein starkes, eckiges Kinn bestens zur Geltung kamen. Das warme Lächeln des gut aussehenden Deutschen, der ihr da entgegenkam, sorgte sofort dafür, dass ihr etwas leichter ums Herz wurde.

„Eine perfekte Wahl“, sagte er, „Sie sehen einfach exquisit aus.“ Seine dunklen Augen nahmen sie von Kopf bis Fuß in Augenschein, als er ihre Hand nahm und ihre Finger an die Lippen führte. Sein kurzer begrüßender Handkuss war federleicht und warm wie Samt. Er entließ sie mit einem leichten Nicken, und als sich ihre Blicke trafen, runzelte er die Stirn. „Ist etwas nicht in Ordnung? War nicht alles zu Ihrer Zufriedenheit?“

„Nein, alles ist wunderbar“, versicherte sie ihm. „Es ist nur, dass … ich habe so etwas schon lange nicht mehr getan. Mich in der Öffentlichkeit aufgehalten. Die letzten fünf Jahre habe ich Trauer getragen …“

Reichens besorgte Miene verstärkte sich. „Trauer getragen?

All diese lange Zeit?“

„Ja.“

„Oh mein Gott. Sie müssen mir verzeihen, aber das habe ich nicht gewusst. Es tut mir leid. Sie brauchen nur ein Wort zu sagen, und ich werde alle wieder wegschicken. Die anderen brauchen den Grund nicht zu erfahren.“

„Nein.“ Elise schüttelte den Kopf. „Nein, um so etwas würde ich Sie niemals bitten, Andreas. Sie haben sich solche Mühe gemacht, und schließlich ist es doch nur ein angenehmes Beisammensein. Ich kann das schaffen. Ich werde es schaffen.“

Sie konnte nicht umhin, an Reichens breiten Schultern vorbei nach dem einen Gesicht Ausschau zu halten, das sie kannte.

Zwar war Tegan alles andere als freundlich, aber immerhin war er ihr vertraut, und grimmig und ungehobelt oder nicht, seine Stärke würde ihr Trost spenden. In ihren Adern spürte sie ein leises Summen. Er musste hier im Herrenhaus sein, ganz in der Nähe, aber doch außerhalb ihres Blickfeldes.

„Haben Sie Tegan gesehen?“, fragte sie und versuchte, so zu klingen, als sei sie an der Antwort nur flüchtig interessiert.

„Nicht seit unserer Ankunft heute Morgen.“ Reichen lachte leise, als er sie von der geschwungenen Freitreppe in Richtung des Ballsaals führte. „Ich bin sicher, dass wir ihn auf dem Empfang nicht zu sehen bekommen. Für gesellschaftliche Anlässe hatte er noch nie etwas übrig.“

Das war wohl so. „Kennen Sie ihn gut?“

„Oh, das nicht gerade. Aber ich schätze, die wenigsten können behaupten, diesen Krieger gut zu kennen. Ich persönlich weiß alles über ihn, was ich brauche, um ihn als meinen Freund zu bezeichnen.“

Elise wurde neugierig. „Wie das?“

„Tegan kam mir vor einiger Zeit zu Hilfe, als es in der Gegend ein akutes, hartnäckiges Problem mit einer Horde Rogues gab. Es ist schon ewig her, in den frühen Achzehnhundertern …

im Sommer 1809 war es, genau.“

Zweihundert Jahre klangen für menschliche Ohren nach einer langen Zeit, aber Elise hatte selbst schon über ein Jahrhundert beim Stamm gelebt, nachdem die Familie Chase sie als kleines Kind aus den Slums von Boston gerettet hatte. Die Vampirreservate der Dunklen Häfen gab es in diversen Teilen Europas und in den Vereinigten Staaten schon sehr viel länger.

„Damals müssen die Umstände hier noch anders gewesen sein.“

Bei der Erinnerung an die alten Zeiten gab Reichen einen Grunzlaut von sich. „Anders, oh ja. Die Dunklen Häfen waren nicht annähernd so gut gesichert wie heute. Keine elektrischen Zäune, keine Bewegungsmelder, keine Kameras, um Sicherheitslücken zu melden. Damals waren unsere Probleme mit den Rogues normalerweise nur vereinzelte Vorfälle - ein oder zwei willensschwache Vampire, die der Blutgier verfallen waren und ein wenig unter der menschlichen Bevölkerung wilderten, bevor wir sie einfangen und einsperren konnten. Aber was 1809 passierte, war anders. Diese Rogues hatten begonnen, Menschen und Vampire gleichermaßen anzugreifen. Sie hatten sich beim Jagen zusammengeschlossen und betrieben das offenbar als eine Art Sport. Es gelang ihnen sogar, in einen unserer Dunklen Häfen einzubrechen. Noch vor dem Ende der ersten Nacht hatten sie eine Anzahl Frauen geschändet und getötet und auch einige Stammesvampire abgeschlachtet.“

Elise verzog das Gesicht, als sie sich den Schrecken vorstellte, der unter den Bewohnern dieser Gegend angesichts solcher Gewalttätigkeit geherrscht haben musste. „Wie hat Tegan Ihnen geholfen?“

„Er war gerade im Umland unterwegs, und als er in den Grunewald kam, fand er dort einen Verletzten aus meiner Gemeinde.

Als Tegan hörte, was hier geschehen war, tauchte er bei mir auf und bot uns seine Hilfe an. Wir hätten ihm selbstverständlich alles Geld der Welt angeboten, aber er wollte gar keine Bezahlung. Ich weiß nicht, wie er es gemacht hat, aber er hat jeden Einzelnen dieser Rogues zur Strecke gebracht und getötet.“

„Wie viele waren es denn?“

Jetzt war Reichens Miene ehrfürchtig. „Sechzehn dieser kranken Wilden.“

„Mein Gott“, keuchte Elise mit ehrlichem Staunen. „So viele …“

„Der Dunkle Hafen von Berlin, wie Sie ihn heute sehen, wäre vermutlich völlig ausgelöscht worden, wenn vor all diesen Jahren Tegan nicht gewesen wäre. Er hat alle sechzehn Rogues eigenhändig aufgespürt und getötet, und dann zog er einfach weiter. Ich habe erst Jahre später wieder von ihm gehört, nachdem er sich mit den paar überlebenden Mitgliedern des Ordens in Boston niedergelassen hatte.“

Elise fehlten die Worte angesichts dessen, was sie da gerade erfahren hatte. Ein Teil von ihr war von Reichens Bericht von Tegans heroischer Tat beeindruckt, aber einem anderen Teil von ihr war plötzlich eiskalt. Ein Gefühl drohender Gefahr breitete sich in ihr aus und brachte sie zum Erzittern. Dass Tegan ein erfahrener Krieger und ein extrem tödliches Individuum war, wusste sie ja. Aber zu welchen Gewalttaten er tatsächlich fähig war, davon hatte sie keine Ahnung.

Zu denken, dass sie sich ihm vorletzte Nacht einfach aufgedrängt hatte! Ihn zu dem Sakrileg verleitet hatte, eine Blutsverbindung mit ihr einzugehen. Wie sehr musste sie ihn beleidigt haben. Und doch hatte er sie erstaunlicherweise nicht angegriffen, was wohl einem Wunder gleichkam - wo er doch jedes Recht hatte, sie zu verachten, so, wie sie ihn benutzt hatte.

Herr im Himmel.

Wenn all die entsetzlichen Dinge, die man sie über die Ordenskrieger gelehrt hatte, auch nur im Entferntesten zutrafen, dann würde sie vermutlich gar nicht hier stehen. Jetzt registrierte sie, dass sich ihre Beine etwas schwach anfühlten. Das Summen in ihren Schläfen wurde lauter und lenkte sie ab wie ein wirbelnder Mückenschwarm.

„Andreas, ich … ich glaube, jetzt könnte ich wirklich einen Drink gebrauchen.“

„Natürlich.“ Reichen bot ihr den Arm, und sie nahm ihn nur allzu gern. „Kommen Sie, ich werde Sie der Runde vorstellen und dafür sorgen, dass Sie alles bekommen, was Sie möchten.“

Tegan wartete, bis sie gegangen waren, bevor er die drei Stockwerke vom obersten Treppenabsatz des Herrenhauses ins Erdgeschoss herunterkam. Er nahm die Treppe, obwohl er sich auch einfach über das geschnitzte Mahagonigeländer hätte schwingen können. So wäre er schneller unten im Marmorfoyer angekommen.

Den Tag über hatte er sich im Herrenhaus eingeigelt und den Einbruch der Dunkelheit abgewartet. Eben war er dabei gewesen, sich auf die Jagd nach Blut und Rogues zu machen, als der Klang von Elises Stimme ihn oben auf dem Treppenabsatz innehalten ließ. Er spähte hinunter, gerade rechtzeitig, um zu sehen, dass Reichen auf sie zueilte, um sie mit seinem üblichen dunklen Charme zu bezirzen. Seit ihrer Ankunft küsste er ihr nun schon zum zweiten Mal die Hand. Er nannte sie „exquisit“, und weiß Gott, das war sie, das war sie allerdings.

Das eng anliegende, indigoblaue Kleid - ein architektonisches Wunder einander überlagernder Seidenschichten und weiter, hauchdünner Röcke - betonte ihre zierliche Figur an den richtigen Stellen. Ihre nackten Schultern und ihr kurzes blondes Haar hoben den graziösen Schwung ihres Halses hervor, der Tegans Blick anzog wie ein Leuchtfeuer. Ihr Puls schlug hektisch unter ihrem Ohr, ein Rhythmus, der in seinen eigenen Adern widerhallte. Selbst jetzt, als sie aus seinem Blickfeld verschwand.

Verdammt, er musste schleunigst Nahrung zu sich nehmen.

Je schneller, desto besser.

Angetan mit seiner vollen Kampfmontur, ging Tegan geradewegs auf das Vestibül des Anwesens zu. Er konnte kaum erwarten, endlich hinauszukommen. Dabei ging er an den geöffneten Flügeltüren des großen Ballsaals vorbei, aus dem das jämmerliche Kratzen eines Streichquartetts und das chaotische Summen vielstimmiger Konversation ertönte. Offenbar war der Empfang bereits in vollem Gang, und Tegan ignorierte ihn.

Er versuchte, auch den Anblick von Elise an Reichens Arm zu ignorieren, als der weltgewandte Deutsche sie der versammelten High Society der Vampire von Berlin präsentierte. So elegant und kultiviert sah sie aus in all dem Geglitzer des Empfangs, passte perfekt zur Elite der Dunklen Häfen.

Das war ihre Welt; jetzt, als er sie sah, wie sie sich in ihren eigenen Kreisen bewegte, wurde es eine unbestreitbare Tatsache.

Dort gehörte sie hin, und sein Platz war draußen auf den Straßen, wo er sich seine Hände mit dem Blut seiner Feinde schmutzig machte.

Klar, dachte er und fühlte, wie heiße Wut in ihm aufstieg. Er gehörte überallhin, nur nicht hierher.

 

Als sie an Reichens Arm weiter in den Ballsaal hineinging, durchkämmte Elise mit ihren Blicken die Menge der etwa fünfzig Anwesenden und erkannte tatsächlich einige Gesichter von früheren Veranstaltungen wieder, die sie damals zusammen mit Quentin besucht hatte. Jeder im Raum starrte sie an - schon von dem Moment an, als sie den Ballsaal betreten hatte. Gespräche brachen ab, Köpfe drehten sich. Als Andreas Reichen sie den Versammelten vorstellte, begann das Streichquartett, das auf der anderen Seite des Raumes spielte, ein leises, flüsterndes Stück.

Er stellte sie einem Gast nach dem anderen vor, präsentierte sie einer endlosen Reihe von Namen und Gesichtern, von der Elise schwindlig wurde und die sie sich schon nach kurzer Zeit nicht mehr merken konnte. Sie nahm Beileidsbekundungen über Quentins Hinscheiden entgegen und hörte mit beträchtlichem Stolz, wie viele der versammelten Repräsentanten der Berliner Agentur von ihren Beziehungen mit ihrem geschätzten Gefährten erzählten. Etliche fragten sie, in welcher Angelegenheit sie nach Berlin gekommen sei, aber diesen Fragen wich sie so gewandt aus, wie sie nur konnte. Es erschien ihr nicht ratsam, Angelegenheiten des Ordens in einer so öffentlichen Arena zu diskutieren, und es wäre praktisch unmöglich, ihre Zusammenarbeit mit den Kriegern zu erwähnen, ohne erklären zu müssen, unter welchen Umständen sie diese überhaupt kennengelernt hatte.

Wie schockiert und angewidert diese Politiker aus den Dunklen Häfen wären, wenn sie wüssten, dass sie erst vor wenigen Tagen durch die Straßen von Boston gezogen war und Lakaien gejagt hatte!

Ein rebellischer Teil von ihr wünschte sich fast, mit dieser Wahrheit herauszuplatzen, nur um zu sehen, wie diesen steifen Zivilisten die Mimik entgleiste. Doch stattdessen nippte Elise nur an ihrem Weinglas, das Reichen ihr geholt hatte, und bemühte sich vergeblich, sich auf die Worte des deutschen Agenten zu konzentrieren, der seit fast einer Viertelstunde ununterbrochen auf sie einredete.

Der imposante blonde Mann, der über seine Adlernase auf sie heruntersah, legte sich mächtig ins Zeug, um sie damit zu beeindrucken, dass er fast schon sein ganzes Leben im Dienst der Agentur stand, überschüttete sie mit angeberischen Kriegsanekdoten aus über hundert Jahren, die er ihr offenbar bis ins allerkleinste Detail beschreiben wollte. Sie lächelte und nickte an den richtigen Stellen und fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie ihr Weinglas ausgetrunken hatte.

Drei Sekunden, entschied sie, und kippte lässig den Rest des französischen Weins hinunter.

„Ihre Dienstjahre sind wirklich rühmenswert, Agent Waldemar“, sagte sie und entzog sich dem Gespräch. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen würden? Ich fürchte, mir ist der Wein etwas zu Kopf gestiegen.“

Der arrogante Agent reagierte verwirrt - schließlich habe sie noch gar nicht gehört, wie er damals nach einem Zusammenstoß mit einem Rogue im Stadtbezirk Tiergarten mit zwanzig Stichen genäht werden musste. Aber Elise lächelte ihm nur höflich zu und verschwand im Gewühl, wo es am dichtesten war.

Zwischen all den parfümierten, seidenumhüllten Körpern streckte sich plötzlich eine Hand aus und legte sich auf ihre.

„Elise? Meine Güte, wie wundervoll, dich zu sehen!“

Schon befand sie sich in einer festen, warmherzigen Umarmung. Als sie sich daraus löste, erfüllte sie eine Woge der Freude, das Gesicht einer lieben alten Freundin zu sehen. „Anna, hallo. Gut siehst du aus.“

„Es geht mir auch gut. Und du - wie lange ist es her, dass wir uns gesehen haben? Die Jungen waren ja noch so klein. Waren sie überhaupt schon sechs, als wir damals alle zusammen waren?“

„Sie waren sieben“, sagte Elise, als ein Ansturm der Erinnerungen sie traf. Camden und Annas Sohn Tomas hatten sich damals schnell angefreundet und einen ganzen Sommer miteinander verbracht, bevor die Agentur Annas Gefährten nach Europa abberufen hatte.

„Ich kann kaum glauben, wie schnell die Zeit vergeht“, rief die andere Stammesgefährtin aus, dann nahm sie Elises Hand in ihre beiden Hände. „Wir haben natürlich gehört, was mit Quentin geschehen ist. Es tut mir so leid, Elise. Mein Beileid, von ganzem Herzen.“

Elise versuchte, ein Lächeln hinzubekommen. „Danke dir. Es war … eine schwere Zeit. Aber ich gebe mir Mühe, mich an das Leben ohne ihn zu gewöhnen, so gut ich eben kann.“

Anna schnalzte mitfühlend mit der Zunge. „Armer Camden.

Ich kann mir vorstellen, wie schwer es für ihn gewesen sein muss, seinen Vater zu verlieren, als er gerade erst in die Pubertät kam. Wie hält er sich? Ist er mit dir nach Berlin gekommen? Ich weiß, dass Tomas entzückt wäre, ihn zu sehen.“

Alles Blut schien Elise aus dem Kopf zu weichen angesichts dieser wohlmeinenden Fragen. Der namenlose Schmerz über seinen Verlust war immer noch so frisch in ihrem Herzen. So frisch, dass sie kaum ihre Stimme fand. „Camden ist … nun, er ist nicht hier. Vor einigen Monaten gab es in Boston einen Vorfall. Er … nun, er ist in Schwierigkeiten geraten, und er …“

Sie musste noch einmal tief Atem holen, um die Worte aussprechen zu können. „Camden ist ermordet worden.“

Anna wurde weiß vom Schock. „Oh, Elise! Vergib mir, ich hatte ja keine Ahnung …“

„Ich weiß. Das konntest du nicht wissen. Es ist schon gut.

Cam hatte einen raschen Tod, und nur sehr wenige wissen davon.“

„Oh, meine Liebe. Du hast so viel durchgemacht. Solche Tragödien durchzustehen … du musst die stärkste Frau sein, die ich kenne. So kurz nacheinander so viel zu verlieren … Es hätte mich umgeworfen, das weiß ich sicher. Ich glaube, ich hätte mich einfach zusammengerollt und wäre vor Schmerz gestorben.“

Es hätte auch Elise so gehen können. Der Herr allein wusste, dass sie es am Anfang genauso hatte machen wollen. Aber dann war ihre Wut gekommen und hatte sie durch ihr erstes Leid getragen.

Den restlichen Kummer würde ihr ihre Rache nehmen.

„Man tut, was man tun muss, um so etwas zu überleben“, hörte sie sich zu der niedergeschmetterten Frau sagen, die sie mit so viel Mitleid ansah, dass es wehtat. „Man tut einfach … was nötig ist.“

„Natürlich“, erwiderte Anna, deren Lächeln jetzt etwas angestrengt wirkte, es gelang ihr nicht recht, ihr Unbehagen über die unangenehme Richtung, die das Gespräch genommen hatte, zu verbergen. „Wie lange bist du hier? Wenn du Zeit hast, könnte ich dir die Stadt zeigen. Wir haben hier wunderbare Parks und Museen …“

„Vielleicht.“ Elise sah auf ihr Weinglas hinab, als hätte sie eben erst bemerkt, dass es leer war. „Wenn du mich bitte entschuldigen würdest? Ich glaube, ich werde jetzt einen kleinen Spaziergang machen und mir davor noch etwas zu trinken holen.“

„Sicher“, sagte Anna, die Augen immer noch weich vom Mitgefühl. „Es war schön, dich zu sehen, Elise. Wirklich.“

Elise gab der Hand ihrer Freundin einen leichten Druck.

„Dich auch.“

Als sie sich anschickte, weiterzugehen, wogte plötzlich ein tiefes Gemurmel durch die Menge. Elise brauchte sich gar nicht umzudrehen, um zu sehen, was der Grund dafür war; sie spürte es an der plötzlichen Unruhe tief in ihren Knochen und am warmen, wissenden Prickeln, das sich in ihrer Brust auszubreiten begann.

„Um Himmels willen“, murmelte der Agent Waldemar in wenigen Metern Entfernung von ihr. Er und einige seiner Spießgesellen starrten in offener Verachtung zum Eingang des Ballsaales. „Man müsste doch meinen, dass er zumindest den Anstand besitzen sollte, zu einem solchen Anlass in angemessener Kleidung zu erscheinen. Jämmerliche Wilde, jeder Einzelne von ihnen.“

Elise warf den Kopf herum und sah Tegan, der soeben den Ballsaal betrat. Er bot schon einen furchterregenden Anblick, in voller Kampfmontur und bis an die Zähne bewaffnet. Sein überlanges, zottiges Haar stand ihm wild um den Kopf und die breiten, ledergepanzerten Schultern, und in seinem grünäugigen Blick lag eine tödliche Schärfe, als er lässig über die Köpfe der Menge hinwegsah.

Er musste doch wissen, wie albtraumhaft er sich in diesen behüteten Zivilistenkreisen ausnahm, aber er grinste den wenigen, die es wagten, ihn offen anzustarren, nur höhnisch zu, als er mitten unter sie schritt.

„Schaut euch diesen ungehobelten Gen-Eins-Barbaren an“, gluckste Waldemar zur hämischen Belustigung seiner Agentenfreunde. „Die jüngere Generation ist mit den blutrünstigen Methoden des Ordens vielleicht noch zu beeindrucken - besonders nach diesem Spektakel in Boston letzten Sommer -, aber man braucht doch nur einen Blick auf dieses Exemplar zu werfen, um zu sehen, was die Krieger wirklich sind: unzivilisierte Gangster, die ihren Daseinszweck schon lange überlebt haben.“

Die Gruppe um ihn herum brach in leises Gelächter aus, sie wirkten so selbstgefällig in ihren seidenen Fracks. Die Arroganz, die diese Männer ausstrahlten, umgab sie wie eine saure Dunstwolke.

Elise hasste es, wie die Männer aus den Dunklen Häfen Tegan ansahen. Und in einer kleinen, verschämten Ecke ihres Bewusstseins wusste sie, dass sie selbst genauso gewesen war. In einer Agentenfamilie aufgewachsen, war ihr von Kindesbeinen an eingebläut worden, dass der Orden genauso war, wie dieser Mann ihn eben beschrieben hatte.

Was Tegan anging, musste Elise zugeben, dass sie ihn am unfairsten von allen eingeschätzt hatte.

„Sagen Sie mir doch, Agent Waldemar“, sagte Elise, stellte sich direkt vor den Stammesvampir und starrte in sein überraschtes Gesicht, „wohnen Sie schon lange im Dunklen Hafen von Berlin?“

Die Brust stolzgeschwellt, erwiderte er: „Hundertzweiunddreißig Jahre, meine Liebe. Die meisten davon habe ich, wie ich schon bemerkt habe, im Dienst der Agentur verbracht. Warum fragen Sie?“

„Weil mir scheinen will, dass, während Sie und Ihre Freunde auf schicken Partys herumstehen, einander auf die Schulter klopfen und den Orden als obsolete Einrichtung verdammen, die Krieger jede Nacht auf den Straße sind und ihr Leben riskieren, um ein Volk zu beschützen, das sich die letzten paar Jahrhunderte nicht einmal die Mühe gemacht hat, ihnen für ihre Anstrengungen zu danken.“

Waldemar wurde blass. Aber dann senkten sich seine fedrigen, blonden Augenbrauen gefährlich. „Sie sind die Witwe von Quentin Chase, also werde ich Nachsicht üben und Sie nicht mit den Tatsachen darüber belästigen, wie brutal diese üblen Kerle sein können. Aber ich versichere Ihnen, meine Liebe, dass sie allesamt seelenlose Killer sind. Jeder Einzelne von ihnen.

Und besonders der da“, fügte er in einem verschwörerischen Flüstern hinzu. „Merken Sie sich meine Worte. Der würde Ihnen glatt im Schlaf die Kehle aufschlitzen, wenn ihm danach wäre.“

„Der da“, sagte Elise und wusste, dass Tegan ihnen unaufhaltsam näher kam. Ihre Venen brannten wie elektrische Leitungen, in ihren Schläfen summte es. Aber jetzt war sie wütend und wurde mit jeder Sekunde noch aufgebrachter. „Dieser Krieger, den Sie so ungezwungen beleidigen, ist der Hauptgrund dafür, dass Sie heute Nacht überhaupt hier stehen.“

„Ach, was Sie nicht sagen“, knurrte Waldemar verächtlich, offensichtlich glaubte er ihr kein Wort.

„Ist das historische Gedächtnis in dieser Gegend so kurz, dass Sie die Horde Rogues vergessen haben, die vor zweihundert Jahren auf Ihren Dunklen Hafen niedergefahren ist und viele Ihrer Mitbürger getötet hat? Es war dieser Krieger hier, der es sich zur Aufgabe machte, die Rogues zur Strecke zu bringen.

Ohne jede Hilfe hat er Ihren Dunklen Hafen gerettet, und er wollte nichts dafür haben. Ein wenig Respekt ihm gegenüber wäre durchaus angebracht.“

Keiner der umstehenden Stammesvampire sagte auch nur ein Wort, als sie ihre Standpauke beendet hatte und auf Reaktionen wartete. Aber jetzt sahen sie an ihr vorbei, und Agent Waldemar war der Blasseste von allen. Als die Gruppe langsam zurückwich, um möglichst unauffällig mit der nun plötzlich sehr geschäftig wirkenden Menge zu verschmelzen, drehte sich Elise um und fand sich weniger als zwei Zentimeter von Tegan entfernt. Er starrte auf sie herunter, so wütend, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte. „Was zur Hölle denkst du, was du da machst?“

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